Wien und Stuttgart: riesige Projekte für mickrige Hauptbahnhöfe
Ein prächtiges Bahnorama
Gerade war ich in einer Ausstellung mit dem grandiosen Namen „bahnorama“ auf der Baustelle des künftigen Wiener Hauptbahnhofs. Es wurde kein mediales Mätzchen ausgelassen, um die Bedeutung dieses Jahrhundertprojekts herauszustellen und die großen Möglichkeiten für die Stadtentwicklung zu preisen. Auf Leuchttafeln wurden Postkartenansichten von Städten gezeigt, die man künftig von Wien aus mit dem Zug erreichen kann (wie bisher auch schon, nun jedoch 10 Minuten schneller) und in einer 3D-Animation wurde der gesamte Bahnhof in magenunfreundlicher Geschwindigkeit durchflogen, einschließlich einer Rolltreppenfahrt entgegen der Betriebsrichtung. Neben der Ausstellung steht ein 67 Meter hoher Holzturm, auf den man sich mit einem Glasaufzug fahren lassen kann, um von oben das Pano-, Verzeihung, Bahnorama des Baustellengeländes bewundern zu können.
„Nun gut“, denkt man sich als Planer, das ist wohl alles richtig so, schließlich muß der Hauptfinanzier (d.i. der Steuerzahler) ja auch erfahren, was er da überhaupt alles bezahlt.
Das Projekt
Aber was genau ist das? Also: auf dem Gelände zweier Kopfbahnhöfe, die bisher rechtwinklig so aufeinandertrafen, daß sie sich ein gemeinsames Empfangsgebäude teilen konnten (Süd- und Ostbahnhof) sowie größerer Abstellanlagen und eines Güterbahnhofs entsteht ein neuer Durchgangsbahnhof mit zehn Bahnsteiggleisen, auf dessen Nordseite (also stadteinwärts) ein hochverdichtetes Büroviertel, auf der Südseite (stadtauswärts) ein neues Wohngebiet.
Aber irgendwas fehlt doch. Hm.
Was nicht entsteht, ist ein richtiges Empfangsgebäude oder auch nur irgendetwas, das den neuen Hauptbahnhof einer europäischen Metropole mit (inkl. Vororten) zweieinhalb Millionen Einwohnern als solchen im Stadtbild erkennbar macht.
Zwischen den Gleisen und der hier vorbeiführenden innerstädtischen Hauptverkehrsstraße Wiedner Gürtel entsteht nämlich kein Bahnhofsgebäude, das aussieht wie ein Bahnhofsgebäude, sondern eine sogenannte BahnhofCity, deren Name durch Denglisch und BinnenGroßSchreibung schon erwarten läßt, was die Reisenden künftig als Allererstes von Wien sehen werden: ein Büro- und Einkaufszentrum aus Stahl und Glas, das exakt genauso aussieht wie alle Büro- und Einkaufszentren aus Stahl und Glas, die in den letzten 40 Jahren zwischen Santiago und Shenzen so errichtet wurden.
In einem Zwickel zwischen dem auf dreieckigem Grundriß errichteten „BahnhofCity“-Hochhaus und den Gleisen befindet sich eine eingeschossige Glaswand, die den Zugang zum eigentlichen Bahnhof bildet. Im Modell stand darauf in großen Leuchtbuchstaben WIEN HAUPTBAHNHOF, und ich hoffe, daß es das auch in der Realität tun wird, weil dies die einzige Chance sein wird, beim Entlangfahren auf dem Wiedner Gürtel den Bahnhof zu finden.
Abgesehen von diesem „Haupteingang“, der etwa doppelt so groß wie ein handelsüblicher S-Bahn-Stationszugang wirkt, versteckt sich der neue Hauptbahnhof weitgehend hinter einer Kette aus Bürogebäuden, die sich bis zum Standort des abgerissenen Süd-/Ostbahnhofs an der Kreuzung Gürtel/Prinz-Eugen-Straße, am Schloß Belvedere hinziehen. Von dort gibt es nicht einmal eine neue Straße zum neuen Bahnhof, geschweige denn eine Sichtbeziehung, sondern das neue Quartier wird ein Straßennetz erhalten, das mit dem dahinter versteckten Bahnhof nichts zu tun haben wird.
Riesenprojekt und Minibahnhof
Insgesamt ist das Projekt „Wien Hauptbahnhof“ durchaus beeindruckend. Es dürfte zu den größten aktuellen Stadtentwicklungsprojekten Europas gehören. Nur eins ist daran weder groß noch beeindruckend: der eigentliche Hauptbahnhof selbst.
Das ist umso überraschender, als die gesamte Werbung, ob gedruckt, im Internet oder in der Ausstellung, immer wieder mit der großen Rolle Wiens als zentralem Bahnknotenpunkt Mitteleuropas einsteigt. Dazu paßt der recht kühne PR-Name „Wien Hauptbahnhof – Europa Mitte“.
In der Tat reden wir hier ja über den Neubau des wichtigsten Landverkehrsknotenpunkts einer wirtschaftsstarken, tourismusintensiven und zentral im ökonomisch relevanten Teil des Kontinents gelegenen Stadtregion mit 2,5 Millionen Einwohnern, die, ganz nebenbei, auch über eine große Eisenbahntradition verfügt, und bezüglich der Entwicklung des Schienenverkehrs zu den zehn wichtigsten Städten der Welt gehören dürfte. Wenn eine solche Metropole nach über 100 Jahren Diskussion nun ihre fünf traditionsreichen Kopfbahnhöfe durch einen durchgehenden Zentralbahnhof ersetzt, sollte dabei ein Bauwerk entstehen, dem man diese Bedeutung auch ansieht.
Anders als in Asien oder Lateinamerika gehören die jeweiligen Hauptbahnhöfe in Europa zu den wichtigsten Bauwerken einer Großstadt. Sie waren bis in die 1960er Jahre hinein der „Haupteingang“ der jeweiligen Stadt, und seit der Reaktivierung unseres Bahnnetzes im Zuge des Baus europäischer Hochgeschwindigkeitsnetze gewinnen die Hauptbahnhöfe im neuen Jahrhundert diese Rolle langsam wieder zurück. Wo vor 30 Jahren heruntergekommene, abrißbedrohte, stinkende und von zwielichtigen Zeitgenossen bevölkerte gründerzeitliche Großbauten die Innenstadt verunstalteten, stehen heute dieselben Empfangsgebäude, in ihrem alten Glanz liebevoll wiederhergestellt, aber funktional voll ans 21. Jahrhundert angepaßt, wieder wie vor 1900 als Eisenbahnkathedrale und grandiose Empfangshalle ihrer Stadt. Wer in Frankfurt, Zürich oder Hamburg aus dem Zug steigt, sieht nicht nur drei der größten Personenbahnhöfe der Welt, sondern auch drei äußerst positive Beispiele für die funktionsgerechte Adaption zentraler Schlüsselbauwerke für die Bedürfnisse des neuen Jahrhunderts. Ähnliches gilt für die seit Beginn der Bahnrenaissance neu errichteten Großbahnhöfe, also Wiens ganz direkte Vorbilder, etwa Lille, Lissabon oder Berlin. Es sind Großbauten mit extrem hohem Nutzwert mit einer zentralen Rolle für das „Funktionieren“ einer modernen Metropole, aber es sind auch Wahrzeichen und (zumindest für die jeweilige Stadt) Architekturikonen mit hohem Identifikationswert für Bürger, Besucher und die überregionale Öffentlichkeit.
Nichts von alledem wird in Wien entstehen. Zur Ehrenrettung (nicht der Wiener Architektur als ganzer, sondern der heutigen Generation) sei eingeräumt, daß sich Wien, eine der großen Eisenbahnmetropolen des Planeten, bereits mit den Bahnhofsneubauten nach dem Zweiten Weltkrieg vom Thema „Repräsentative Eisenbahnarchitektur“ verabschiedet hatte. Anstelle des Nordbahnhofs, früher einer der größten und prächtigsten Bahnhöfe Europas, steht heute der gesichtslose Glaskasten „Praterstern“. Die Selbstverzwergung der 1950er-Architektur am West- und Südbahnhof sowie Wien-Mitte wird niemand vermissen. Und über das 70er-Jahre-Ungetüm am Franz-Josefs-Bahnhof, das in vielem an ein geplatztes Sparkassengebäude, aber in nichts an einen Bahnhof erinnert, brauchen wir erst gar nicht reden. Trotzdem ist der nun umgesetzte Hauptbahnhof-Entwurf aufs Neue enttäuschend.
Wien bekommt fünf Bahnsteige mit zehn Gleisen, die teilweise von einer amorphen (vom Bauherrn vermutlich für repräsentativ gehaltenen) Rautenstruktur überdacht werden. Die östliche Hälfte der Bahnsteige bekommt Wetterschutz nur in Form einer mehr oder weniger von jedem Kleinstadtbahnhof bekannten Einzelüberdachung. Wien bekommt keine große hohe Gleishalle, wie sie im Dampfzeitalter aus praktischen Gründen zu jedem großen Bahnhof gehörte, dann für verzichtbar gehalten wurde, aber seit den 90er Jahren wieder selbstverständlich zu jedem großen Neubau gehört. Und Wien bekommt auch kein seiner Bedeutung entsprechendes Empfangsgebäude, das als neues Wahrzeichen dieser großen Architekturmetropole für das neue Jahrhundert taugen würde. Wien bekommt eine überdimensionierte S-Bahn-Station, versteckt hinter Bürohäusern und Einkaufszentren, im Stadtbild praktisch unsichtbar. Aber warum?
Woran erinnert das uns bloß?
Auch wenn ich aus Wien bisher nicht von Großdemonstrationen gegen den Bahnhofsnebau gehört habe, erinnern Anlaß, Dimension und das Projekt an sich in vielem an „Stuttgart 21“, das in der Wiener Ausstellung (neben Berlin, Lüttich, Antwerpen und Zürich) übrigens auch als Positivbeispiel aktueller Hauptbahnhofsumbauten angeführt wird.
In beiden Städten wird die Positionierung der eigenen Stadt im europäischen Metropolenwettbewerb als Ausgangspunkt genommen, die Erreichbarkeit der Stadt im kontinentalen Hochgeschwindigkeitsnetz sicherzustellen, mit einem aufgewerteten und deutlich beschleunigten Regionalverkehr das Arbeitskräftepotential des 100-km-Radius zu erschließen und die Integration des Hauptbahnhofs ins städtische/stadtregionale Schnellbahnnetz zu verbessern. Es wird in beiden Städten argumentiert, daß hierfür sehr große Infrastrukturmaßnahmen nötig sind, um die teilweise über 150 Jahre alten Anlagen für eine moderne Metropole weiterzunutzen. Es wird in beiden Städten darauf hingewiesen, daß es sich um ein Jahrhundertprojekt handelt, eine Bauaufgabe, die sich im laufenden Jahrhundert nicht noch einmal stellen wird.
Das alles ist völlig richtig. Es ist ebenfalls richtig, daß dafür sehr viel Geld ausgegeben werden muß. Es ist sogar richtig, sogenannte „Prestigebauten“ zu errichten, denn jede Generation hat das Recht (oder sogar die Pflicht?), hochqualitative Spuren im Stadtbild zu hinterlassen, über die sich unsere Enkel einmal ärgern und unsere Urenkel wiederum erfreuen können.
Was jedoch unklar bleibt, ist: warum entstehen bei derartigen Riesenprojekten derart mickrige Hauptbahnhöfe?
Stuttgart gibt viele Milliarden Euro aus, um einen neuen Bahnhof zu bekommen, der halb so viele Gleise hat wie der heutige und der aufgrund von unterdimensionierten Zulaufstrecken weniger Züge und Passagiere bedienen kann als der Status Quo. Wien gibt Milliarden Euro aus, um erstmals in seiner Geschichte einen Zentralbahnhof zu erhalten, der dann aber genauso aussieht wie der einer 200.000-Einwohner-Stadt, und der obendrein im Stadtbild praktisch unauffindbar sein wird.
Warum bloß?
In beiden Städten werden durch die Stillegung und Verlagerung von Bahnbetriebseinrichtungen große innerstädtische Flächen zur Neubebauung frei. Für die örtliche Immobilienwirtschaft und die beteiligten (staatlichen!) Bahnunternehmen gibt es dabei eine Menge Geld zu verdienen. Und die städtebaulichen Nachnutzungsprojekte sind, im Gegensatz zu den beiden geplanten Bahnhöfen, tatsächlich von beeindruckenden Dimensionen.
Vielleicht liegt hierin ja die Antwort auf meine „warum?“-Frage. Oder gar der eigentliche Anlaß für die beiden Mammutprojekte an sich.